Moin.
Ich habe eine neue Werkstatt im schönen Korbach angetestet und im Rahmen der 12.000er Inspektion für die RS eine W800 als Werkstattfahrzeug bekommen. Somit hatte ich die Gelegenheit, das Fahrzeug auf 130 Kilometer Gesamtstrecke zu bewegen und ein paar Impressionen zu sammeln.
Die ersten paar Kilometer waren sehr lustig. Ich habe ständig die Hupe erwischt, wenn ich blinken wollte. Wahrscheinlich war ich zu sehr damit beschäftigt mir ins Gedächnis zu rufen, welchen Gang ich gerade drin hatte. Eine Ganganzeige gibt's nämlich nicht, und ich bin inzwischen sehr daran gewöhnt. Irgendwie amüsant ist auch die Sitzposition, sehr aufrecht, Kniegelenke (gefühlt) höher als die Hüfte, die Arme locker auf dem breeiiten Damenfahrradlenker. Der Hintern wird in der dafür vorbereiteten Mulde versenkt, was sich weniger nach Sattel und mehr nach Sessel anfühlt. Dagegen sind die Fußhebel recht niedrig positioniert, Bremsen u. Schalten geraten zu unfreiwilligen Dehnübungen für die Sprunggelenke. Alles in allem jedoch recht bequem - bis auf den Umstand, dass man zum Ablesen der Instrumente den Kopf senken muss. Aber auch das ist mehr oder weniger zu vernachlässigen. Weil ...
... Nach einer Weile hat man die ergonomischen Eigenheiten verinnerlicht und akzeptiert, dass man auf einem rollenden Sofa sitzt. Und wie das rollt! Vorne auf 100/90/18, hinten 130/80/18 (Dunlop TT100GP). Die Reifen machen einen tollen Job, zumindest auf trockenem Asphalt. Prima und auch irgendwie lustig ist das Einlenkverhalten, beides zusammen ergibt reichlich Spaß. Die spargeligen Dimensionen erinnern mich nämlich wiederum mehr an das Fahrverhalten eines Fahrrads. Nur halt wesentlich schneller.
Schnell kann sie auch, die W800. Na ja, sagen wir mal, es reicht für fast alles. Breiter Lenker, schmale Reifen und hohe Fußrasten sorgen für Schräglagen, die ich der Hübschen eigentlich nicht zugetraut hatte. Da war recht schnell genug Vertrauen für höhere Kurvengeschwindigkeiten generiert. Und der Motor an sich ist ja nicht nur äußerlich ein echtes Schmuckstück, nein, der kann was für seine 48 PS verteilt auf 773 ccm!
An einem Freitagmittag im ländlichen Berufsverkehr hat sie sich wacker geschlagen. Das größte Quantum Drehmoment scheint sehr früh anzuliegen, so um die 2500 U/min., und treibt die W800 souverän den Berg rauf - nicht so wahnsinnig flink, aber auch nicht lasch. Sind halt "nur" 48 PS. Es reicht jedoch allemal für das eine oder andere flotte Überholmanöver, was einen nicht unwichtigen Haken setzt. Hat man freie Bahn durch Feld und Flur, pendelt man sich automatisch bei 80-100 km/h ein, 5. Gang, 3500 U/min., und man ist es zufrieden. Wobei ich immer mal wieder nach einem 6. Gang geangelt habe, der jedoch nicht vorhanden ist. Was aber auch nicht weiter tragisch ist. Ist der 5. einmal drin, isses gut. Denn dann kommt der Flow. Man überholt und lässt sich auch oft und ohne Gegrummel überholen, wobei die Spiegel, die vibrationsfrei funktionieren, ein echter Zugewinn sind.
Also, der Sound ist ja schon echt geil! Ist der (luftgekühlte) Motor warm, schnurrt und brummt er, das ist eine wahre Wonne. Die Erbsenschussgeräte von Endtöpfen patschen im Schiebebetrieb hin und wieder fröhlich aber unaufdringlich vor sich hin, und die recht starken Vibrationen in den Fußrasten - so habe ich beschlossen - verbucht man unter "nostalgisches Flair". Ebenso, dass der dicke Tank die Oberschenkel gefühlt 90 Grad auseinander spreizt. Gegessen! Denn bei dem Zockeltempo, dem Wohlfühlbereich für Mensch und Maschine, spielt Performance nun wirklich eine untergeordnete Rolle.
Wobei, das Fahrwerk ist auch nicht sooo übel, wie anfangs befürchtet. Die W800 schluckt klaglos so einiges weg, das Fahrverhalten möchte ich mit "stabil" umschreiben: ordentlicher Geradeauslauf, Spurtreue in Kurvenlage, sehr gutes Handling, vermutlich auch durch den breiten Lenker. Doch, die kann schon was. Möglicherweise spielen da auch die 18-Zöller und die Reifenqualität mit rein. Nur das ganz grobe Zeugs, Löcher im Asphalt etc. sollte man besser umfahren, da haut's einem schon die Kiefer aufeinander (107 mm Federweg hinten). Angetan war ich von den Bremsen. Hatte im Vorfeld vernommen, das sei ein Schwachpunkt der Maschine. Kann ich so nicht bestätigen. Die Verzögerung ist sehr gut, die Handkraft geht in Ordnung, der Druckpunkt ist eindeutig zu ermitteln. Allerdings habe ich das ABS nicht getestet. Was die Hinterradbremse (jetzt als Scheibe) im Speziellen angeht, da habe ich schon wesentlich schlechtere erlebt. In dem Zusammenhang, Schalt- und Bremshebel sind einstellbar, bei mir immer ein Pluspunkt.
Heute morgen auf der Rückfahrt zum HH habe ich dann Zeit gehabt für letzte Beobachtungen und ein Fazit. Das ging so Hand in Hand, denn Zeit und Geschwindigkeit sind auf der W800 zwei relative Größen, hier quasi unbedeutend. Wenn man drauf sitzt und rollt hat man recht schnell das Gefühl für beides verloren. Der Motor brummt, die Landschaft gleitet vorüber, der Tacho zeigt 90 km/h und man ist rundum zufrieden damit, meinetwegen von Sonnenauf- bis Untergang. Die entscheidende Frage steht somit im Raum: Wäre das ein Motorrad für mich?
Die W800 hat mich positiv überrascht, keine Frage. Abgesehen von ein paar Kleinigkeiten. So hat sie keinen Hauptständer und auch keine Möglichkeiten, einen regulären Montageständer zu verwenden. Nach dem Seitenständer muss man etwas mühsam angeln. Beim Schalten von Gang 1 in 2 landet man mitunter bei neutral, umgekehrt ebenso. Der Fußschalthebel ist ein unnötig langer Stecken und zu tief platziert. Zumindest eine Tankanzeige wäre nett. Die Verdrahtung der Hupe ist der Witterung ausgesetzt, hier wäre Schrumpfschlauch/Isolierband angeraten. Der Blinkerschalter ist ein wenig klobig geraten und sieht gleichzeitig nicht besonders widerstandsfähig aus. Der Schwerpunkt ist bei vollem Tank überraschend hoch, was beim Rangieren im Sitzen gewöhnungsbedürftig ist für einen 175-cm-Mensch wie mich. Zumal ich meine Füße vor den klobigen Fußrasten positionieren muss, um einen sicheren Stand zu haben.
Abgesehen davon, sie ist eine echte Augenweide, hat jede Menge Charme und ein paar Ecken und Kanten, die man mit "liebenswert" umschreiben kann. Das ist ganz sicher ein Motorrad nach meinem Geschmack. Als ich aber von der W800 direkt wieder auf meine RS gestiegen bin, war nach wenigen Metern sofort klar, wo meine Prioritäten liegen. Wer weiß, die Kawa als Zweitmaschine, irgendwann mal ...
Gruß
Jörg